Der Auszug Israels aus Ägypten

Fredi Winkler

18 Juli 2022

Keine Kommentare

Immer wieder Anlass zu Spekulationen geben die Fragen, an welcher Stelle die Israeliten durchs Meer und auf welchem Weg sie durch die Wüste gezogen sind und wo sich der Berg Gottes befindet. Eine Spurensuche.

Eine immer beliebter werdende Ansicht zum Auszug Israels aus Ägypten ist die, dass der biblische Berg Sinai gar nicht auf der Sinaihalbinsel lag, sondern auf der anderen Seite des Roten Meeres, im heutigen Saudi-Arabien. Diese Meinung ist aber schon deshalb schwer zu verteidigen, weil mit dem Namen Sinai eine riesige und geografisch klar begrenzte Landmasse bezeichnet ist. Und Namen von so deutlich begrenzten und grossen Gebieten haben sich im Lauf der Geschichte meistens nicht verändert. Historisch gesehen ist auch kein anderer Name für die Halbinsel bekannt, auch nicht im antiken Ägypten, das mit seinen Inschriften an Tempeln und Grabanlagen die wohl älteste Geschichtsschreibung besitzt. Daher ist es nur logisch anzunehmen, dass der Berg Sinai sich auf der gleichnamigen Sinaihalbinsel befindet.

Trotzdem gibt es auch unter Christen immer mehr solche, die meinen, der Berg Sinai sei in Saudi-Arabien. Diese Meinung gründet sich auf eine Bemerkung des Apostels Paulus im Galaterbrief: «‹Hagar› bedeutet den Berg Sinai in Arabien» (Gal 4,25). Diese Aussage kann man unterschiedlich verstehen. Entweder so, dass sich der Berg tatsächlich in Arabien befindet, oder ganz einfach so, dass der Berg Sinai in Arabien «Hagar» genannt wird.

Die Art und Weise, wie die Schlachter-Bibel (s. oben) übersetzt, weist auf Letzteres. Das ist wohl die naheliegendste Bedeutung dieser Stelle. Denn im selben Brief berichtet Paulus, dass er drei Jahre lang in Arabien gewesen ist (Gal 1,17-18). Damit ist wahrscheinlich das Nabatäer-Königreich gemeint, das ungefähr das Gebiet des heutigen Jordanien umfasst hat. Demzufolge kannte Paulus die arabische Umgangssprache. Diesbezüglich sollten wir ausserdem beachten, dass der Berg Sinai auch im Hebräischen noch einen anderen Namen hat, nämlich Horeb.

In dieselbe Richtung geht überdies die Behauptung im Islam, Abraham hätte auch in Mekka und Medina gelebt und Abraham hätte schon die «Kaba» in Mekka verehrt oder sogar gebaut (Sure 2,127; 2,125; 3,97).

Dies zeigt, wie entscheidend wichtig es ist, genau hinzusehen, was die Bibel über diese Dinge wirklich sagt, wie etwa über den Durchzug durchs Meer, den Marsch durch die Wüste zum Berg Sinai (dem Horeb) und die 40-jährige Wanderschaft durch die Wüste bis ins verheissene Land, in das Land Kanaan.

WO SIND DIE ISRAELITEN DURCH DAS MEER GEZOGEN?

Diese Frage ist, wie schon erwähnt, heute sehr wichtig, denn die Theorie wird immer populärer, wonach Israel an der Südspitze der Sinaihalbinsel, bei der Strasse von Tiran, der Meerenge von Tiran, oder bei Nuwaiba durch das Rote Meer auf die andere Seite in das heutige Saudi-Arabien gezogen sei. Sollte das stimmen, dann befände sich der biblische Berg Sinai tatsächlich in Saudi-Arabien.

Heute wird das, was in der Bibel steht, von den Archäologen und anderen Forschern meistens als legendenhaft und als nicht zuverlässig hingestellt. Zugegebenermassen, die Sache ist tatsächlich nicht einfach, weil die in der Bibel genannten Orte oft nicht leicht zu lokalisieren sind. Doch bei genauerem Hinsehen stellt sich meistens heraus, dass die Angaben sehr präzise sind.

DER AUSZUG

Israel zog in der Nacht vom 14. auf den 15. Tag des ersten Monats aus Ägypten (2Mo 12,18.29). Der Frühlingsmonat, in den Pessach fällt, ist nach dem ursprünglichen biblischen Kalender der erste Monat im Jahreszyklus. Die erste Wegstrecke führte die Israeliten von Ramses nach Sukkot (V. 37).

Die zweite Wegstrecke führte sie dann weiter von Sukkot nach Etam, am Rand der Wüste (2Mo 13,20). Sie hatten also gerade das fruchtbare nordöstliche Nildelta verlassen, wo das Land Gosen war, in dem die Israeliten gewohnt hatten, und kamen nun zur Wüste.

Was dann geschah, ist äusserst entscheidend und bemerkenswert und wird beim Lesen leicht übersehen. Gott selbst weist Mose an, von dem eingeschlagenen Weg umzukehren und in Richtung Norden zum Meer hin zu ziehen (2Mo 14,1-2).

Jetzt drängt sich natürlich die Frage auf: Welches Meer ist damit gemeint? Es ist bemerkenswert, dass im Zusammenhang mit dem Durchzug durch das Meer meistens nur der Ausdruck «Meer» gebraucht wird, und nicht «Schilfmeer». In den drei relevanten Kapiteln, 13, 14 und 15, wird neunzehnmal «Meer» gesagt und nur zweimal «Schilfmeer». Da erhebt sich die Frage, ob mit dem Schilfmeer tatsächlich das Rote Meer gemeint ist, wie man allgemeinhin annimmt, oder ob dies nur eine besondere Gegebenheit am Meer selbst beschreibt?

An einem Meer, das salzhaltig ist, kann kein Schilf wachsen. Am Roten Meer ist das nur an Stellen möglich, wo Süsswasser aus einer grossen Ebene oder einem Tal ins Meer fliesst oder – wie es in wüstenähnlichen Gebieten meistens der Fall ist – wo es unterirdisch im Geröll und Kies zum Meer hindrückt. Dies ist der Fall am Golf von Akaba oder bei Eilat. Allerdings ist dort heute kaum mehr Schilf vorhanden, weil man das Land in Nutzfläche umgewandelt hat, wo das Schilf nur stört. Dasselbe gilt natürlich auch für die andere Seite, am Golf von Suez. Die Tatsache, dass an den Stellen, wo man an den zwei Nordenden zum Roten Meer kommt, zuerst einmal nur Schilf zu sehen war, führte wahrscheinlich dazu, dass man das Meer einfach Schilfmeer nannte. Ansonsten wächst jedoch kein Schilf am Roten Meer, ausser eben an den Stellen, wo das Süsswasser im Untergrund Richtung Meer hindrückt.

Dieselben Bedingungen finden wir in viel grösserem Umfang im Nildelta und an der nördlichen Küste der Sinaihalbinsel, am sogenannten Sirbonischen Meer oder dem Bardawil-See, wie er heute genannt wird. Diese riesige Süsswasser-Lagune ist vom Mittelmeer nur durch eine schmale Landenge getrennt und mit viel Schilf bewachsen. Daher ist es nur verständlich, dass diese Gegend am Ufer des Mittelmeeres im biblischen Bericht zweimal auch Schilfmeer genannt wurde, obwohl ansonsten überwiegend vom Meer die Rede ist.